Situation der Kirchen in der Sowjetunion
Nach der Februarrevolution 1917 nahm die russische Regierung eine umfassende Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat in Angriff. Mit dem Sieg der Bolschewiki im Oktober erhielt diese Tendenz eine neue Dynamik. Im Dezember wurden orthodoxe Kirche und Staat getrennt und der Staat stellte die finanzielle Unterstützung für die Kirche ein. Das Kirchenland, auch das der katholischen Kirche, wurde nationalisiert und an die Bauern verteilt. Daraufhin rief Patriarch Tichon (Bellavin) zum Kampf gegen die Bolschewiki auf. Die Regierung reagierte, indem sie der Kirche den Status einer juristischen Person nahm. Die orthodoxe Kirche stellte sich im Bürgerkrieg eindeutig auf die Seite der Weißen. Die Roten begingen in dieser Auseinandersetzung schwere Gewalttaten. Hans-Heinrich Nolte sieht dies jedoch im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg und stellt fest, dass die Bolschewiki die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat zu diesem Zeitpunkt nicht suchten. Als der Sieg der Roten absehbar war, brach Tichon den Kampf im September 1919 ab.
In ihrem Programm von 1919 setzten sich die Bolschewiki die Beschleunigung des als historisch notwendig angesehenen Absterbens der Religion zum Ziel. Dazu sollten allerdings keine administrativen, sondern propagandistische Mittel zum Einsatz kommen. Die Religionsgemeinschaften durften getrennt vom Staat als private Vereine weiter bestehen. Nur auf lokaler Ebene bestand ein Anspruch auf Gemeindegründung, die vom Staat enteigneten Kirchengebäude und Kultgegenstände sollten den Gemeinden zur Nutzung überlassen werden. Der Religionsunterricht wurde 1920 für unter 18-Jährige verboten. Dies betraf auch religiöse Unterweisungen durch die Eltern. Dagegen wurde registrierten Religionsgemeinschaften 1921 gestattet, überregionale Kongresse abzuhalten. Unbeabsichtigterweise bewirkte diese Politik für die kleinen Kirchen einen gewissen Aufschwung. Gleichzeitig entlud sich der Widerspruch zwischen der atheistischen Propaganda und der relativ gesicherten Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften zuweilen in schweren Übergriffen. Spätestens 1927 arrangierte sich die orthodoxe Kirche mit der Sowjetunion. Mit der Machtübernahme Stalins Ende der 1920er Jahre setzten erneut massive Verfolgungen ein.
Durch die Entstehung der ostmitteleuropäischen Staaten sank die Anzahl der russischen Katholiken auf 1,6 Millionen. Die durch die Aufhebung des orthodoxen Staatskirchentums geweckten Hoffnungen auf Missionserfolge zerschlugen sich spätestens 1923, als die sowjetische Regierung mit den Prozessen gegen den Apostolischen Administrator von Mogiljow-Podolski, Johann B. Cieplak, und seinen Generalvikar Konstantin Butkiewicz begann, die katholische Hierarchie zu zerschlagen. Pius XI. betrieb seinerseits eine entschieden antikommunistische Politik. Der Heilige Stuhl versuchte, die bedrängte Kirche materiell und institutionell zu unterstützen, von 1922 bis 1924 durch eine päpstliche Hilfsmission zur Bekämpfung der Hungerkatastrophe sowie mit der 1925 bei der Kongregation für die Orientalische Kirche geschaffenen "Päpstlichen Kommission Pro Russia". Seit 1922 kam es zeitweise zu einer gewissen Annäherung zwischen dem Heiligen Stuhl und der Sowjetunion. Moskau, das diplomatisch isoliert war, drängte auf die völkerrechtliche Anerkennung seitens des Heiligen Stuhls. Dieser wiederum verlangte Konzessionen für die bedrängte Ortskirche. An den Verhandlungen waren die Apostolische Nuntiatur und die sowjetische Botschaft in Berlin maßgeblich beteiligt. 1925 legte Moskau sogar den Entwurf eines Dekrets über den Status des katholischen Glaubensbekenntnisses vor (Dokument Nr. 11035). Die Verhandlungen führten jedoch zu keinem Ergebnis. Der Versuch, das Aussterben der Hierarchie mit der stillen Weihe von fünf Bischöfen durch Michel-Joseph Bourguignon d'Herbigny SJ zu verhindern, schlug fehl. Die Durchsetzung des Stalinismus bedeutete auch für die katholische Kirche eine verschärfte Verfolgung.
Quellen
Das Toleranzgesetz vom 17. April 1905, in: HAUPTMANN, Peter / STRICKER, Gerd (Hg.),
Die Orthodoexe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte (860-1980), Göttingen 1988,
S. 587-592
Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche. Dekret des Rats
der Volkskommissare (23.1.1918), in: HAUPTMANN, Peter / STRICKER, Gerd (Hg.), Die
Orthodoexe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte (860-1980), Göttingen 1988,
S. 648 f.
Literatur
Februarrevolution; Schlagwort Nr. 6032.
HERMANN, Emil, Rußland, in: Lexikon für Theologie und Kirche 9 (1937), Sp. 24-33, hier 30-32.
In der Sowjetunion inhaftierte Katholiken; Schlagwort
Nr. 9072.
Kardinalsversammlung zur Situation in der Sowjetunion vom 17. Dezember 1923;
Schlagwort Nr. 9067.
Kirchenunion; Schlagwort Nr. 1609.
NOLTE, Hans-Heinrich, Die Glaubensgemeinschaften und die Religionspolitik des Staates,
in: HELLMANN, Manfred / ZERNACK, Klaus (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands,
Bd. 3,II: 1856-1945. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat, Stuttgart
1992, S. 1709-1741.
Oktoberrevolution; Schlagwort Nr. 15004.
Päpstliche Hilfsmission in Russland; Schlagwort
Nr. 14063.
PETTINAROLI, Laura, La politique russe du Saint Siège (1905-1939) (Bibliothèque des
Écoles françaises d'Athènes et de Rome 367), Paris 2015, in: books.openedition.org (Letzter Zugriff am: 10.05.2016).
Russisch-orthodoxe Kirche; Schlagwort Nr. 18104.
SAMERSKI, Stefan, Rußland, III. Kirchengeschichte der Sowjetunion, in:
Lexikon für Theologie und Kirche3 8 (1999), Sp. 1379-1382.
Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion
und dem Heiligen Stuhl; Schlagwort Nr. 9070.